Mit Unmöglichkeit IV – Revue schließt sich der Kreis. In dem ausufernden Konzert im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst wird das Ensemble zum Gegenstand der Betrachtung. Open Space. Auflösung und Wiederkehr. Die Kunst des Musikmachens im Kollektiv. In vier Teilen des Konzerts sind Werke von Xenakis, Haydn, Vivier, Bach, Scelsi, Haas, Monteverdi, Lachenmann, Ockeghem, Gervais, Dufay, Claren, Beethoven und Moe zu hören.

Der Abend beginnt mit einer Nummernrevue aus 16 Soli und führt in den zweiten Teil, eine Rückschau auf zehn Jahre Kaleidoskop. In dieser Rückschau wird die Vereinzelung des Musikers in seiner Rolle als Solist, seiner Auflösung und gleichzeitig seiner Behauptung in der Vielheit gegenübergestellt.

Der dritte Teil beschreibt einen Ausblick auf Möglichkeiten des Musizierens. 16 Solisten spielen gemeinsam als Kollektiv das auf einem Techno-Track basierende Mammutwerk Maurizio von Sebastian Claren: Das Ideal des in der Gruppe derart Verwobenen, dass keiner vor oder über dem anderen existiert, wird hier für das Publikum in einer einstündigen Performance unmittelbar erlebbar.

Im vierten Teil des Abends wird der Musiker Rashad Becker auf Basis von Clarens Maurizio/Licht (und deren Aufnahme auf natürlichen Instrumenten) ein neues Werk komponieren, das er auf elektronischen Instrumenten live spielen wird. Wiedergegeben durch Klanginduktion auf der 20×20 Meter großen Glasfront wird das kathedralenhafte Kesselhaus des KINDL selber zum Klangkörper.

Anlässlich seines 10. Geburtstages beginnt am 09. März die vierteilige Konzertreihe des Solistenensemble Kaleidoskop Unmöglichkeit I–IV. Mit dem Anspruch, Musik immer wieder neu und unvoreingenommen zu spielen, werden darin musikalische Endpunkte und mögliche Neuanfänge erprobt. Kaleidoskop stellt die Frage nach der Existenz einer absoluten, unzerstörbaren Idee eines musikalischen Werkes:

Wann wird Geräusch Musik? Wie lassen sich musikalische Standpunkte vermitteln? Welche Unmöglichkeiten des gemeinsamen Musikmachens existieren?

Bis zum 11. Juni eröffnen sich dem Ensemble und seinem Publikum an vier verschiedenen Berliner Orten der Bildenden Kunst in vier verschiedenen Konzerten neue Hörräume, die Hoffnung auf eine neue ‚Hellhörigkeit‘ versprechen. Jedes der vier Konzerte hat seine eigene Bühne, seinen eigenen Klang- und visuellen Assoziationsraum. Die Konzerte sind sowohl als Einzelvorstellungen als auch als vierteiliges Gesamtwerk konzipiert. Die Spielorte nehmen Bezug zueinander und bauen aufeinander auf.

Musik: Solistenensemble Kaleidoskop
Künstlerische Leitung: Tilman Kanitz
Künstlerische Mitarbeit: Boram Lie
Dirigent: Manuel Nawri (Claren), Tammin Julian Lee (Vivier, Xenakis)
Klanginstallationen: Ole Brolin, Harpo ‘t Hart, Tilman Kanitz
Elektronik: Rashad Becker
Kostüm: Cristina Nyffeler

aus: derFreitag, Michael Jäger (Juni 2016)

Wann wird Geräusch Musik?

Lange Nacht. Fünfzehn Solisten fragen „nach der Existenz einer absoluten, unzerstörbaren Idee eines musikalischen Werks“

Das Berliner „Solistenensemble Kaleidoskop“, bestehend aus 15 Streichern und Streicherinnen, wurde vor zehn Jahren gegründet und feiert in diesem Jahr sein Jubiläum: mit Veranstaltungen am 24./25. September im RADIALSYSTEM V und mit der Konzertreihe „Unmöglichkeit I – IV“, dessen vierten Teil ich mir am Samstag angehört habe. Genauer gesagt war ich über längere Zeit dabei: Es war eine Lange Nacht, die von 18 Uhr am Nachmittag bis wohl ca. zwei Uhr morgens dauerte, und ich bin um halb Zwölf gegangen, randvoll mit Eindrücken und nicht mehr weiter aufnahmefähig. Die Session war großartig nicht nur der Musik wegen; auch schon allein der Ort faszinierte und war gewiss nicht zufällig gewählt. Doch der Reihe nach.

In den verschiedenen Berliner Festwochen ist das Ensemble, das von zwei seiner drei Cellisten, Michael Rauter und Tilman Kanitz, künstlerisch geleitet wird, meines Wissens noch nicht aufgetreten, doch war es beispielsweise beim Kunstfest Weimar, der Salzburg Biennale, dem Sydney Festival in Australien und anderswo zugegen. Dabei würde es der Berliner MaerzMusik durchaus gut tun, es baldmöglichst einzubeziehen. Die MaerzMusik definiert sich seit dem vorigen Jahr als „Festival für Zeitfragen“, es will „herrschende Zeitbegriffe, Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen aus politischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektive“ diagnostizieren und hat sich im März 2016 „auf das Digitale Universum als Geburtsort neuer Zeitformen“ spezialisiert – nicht zu meiner ungeteilten Begeisterung, wie ich gestehe. Da konnte man zum Beispiel hören, wie ein Computer komponiert. Wenn man es hören wollte. Es war natürlich anerkennenswert, dass versucht wurde, neue Wege der Musikproduktion auszuloten.

Eben denselben Versuch unternimmt auch das Ensemble Kaleidoskop. Auf Maschinenmusik wird man da nicht stoßen, wenn auch auf elektronische. Die Fragen, die hier gestellt werden, sind welche von Menschen für Menschen:

„Mit der Konzertreihe Unmöglichkeit I-IV stellt Kaleidoskop die Frage nach der Existenz einer absoluten, unzerstörbaren Idee eines musikalischen Werks: Wann wird Geräusch Musik? Wie lassen sich musikalische Standpunkte vermitteln? Welche Unmöglichkeiten des gemeinsamen Musikmachens existieren?“

Die letzte Frage spielt darauf an, dass das Ensemble nicht nur als musikalische Assoziation auftreten will, sondern ihm auch das sicht- und hörbare Hervortreten der Einzelnen wichtig ist; deshalb sein Name, das Oxymoron „Solisten“ensemble. Eine Art, wie es geschehen kann, wurde im ersten Teil der Langen Nacht vorgeführt:

Die Solisten und Solistinnen saßen oder standen über den Raum verteilt, zwischen ihnen lagerte das Publikum auf länglichen Kissen, deren Gesamtmuster an einen labyrinthischen Garten erinnerte. Einzeln oder zu zweit oder dritt spielten sie kurze Stücke von Xenakis, Haas, Sciarrino, Scelsi, Lachenmann und noch vielen anderen, auch Kurtág und Carter, auch Bach sogar (Sarabande und Double), alles aber mit Überlagerung der Anfänge und Enden, ja manchmal übereinander und oft mit ungewöhnlichen Spieltechniken. Eine Violinistin zum Beispiel begleitete ihr leises Spiel mit ebenso leisen hellen Schreien, was klanglich sehr gut zusammenpasste. Überhaupt spielten alle meistens sehr leise, was aber hinreichte, den ganzen Raum mit einem derart überpräsenten Klangteppich zu durchweben, dass man sich zuhörend in einem der höheren Himmel verlor.

An dieser Stelle muss erst einmal vom Raum die Rede sein. Das Konzert wurde im Sudhaus der ehemaligen Kindl-Brauerei in Berlin-Neukölln gegeben. Das ist eines der vielen Industriegebäude, die nach dem Muster der Kirchenarchitektur gebaut sind; so hat der Turm hohe Spitzbogentore und das „Kesselhaus“ links von ihm – wo das Konzert gegeben wurde – kann sich in seiner Höhe, entfernt aber auch in der Fensterfassade und dem Lichtspiel, das sie innen hervorbringt, mit gotischen Kathedralen messen. Da es natürlich von allem Industriellen entkernt und nur der nackte Raum als solcher übrig geblieben ist, könnte es kahl und leer wirken, tut es aber nicht, sondern wirkt mit einigen abgezirkelten schwarzen und braunen Feldern in der Höhe, oder unten mit hellen Ziegelkacheln, die in nackte Mauerstücke auslaufen, wie ein modernes abstraktes Kunstwerk. Natürlich ist der Halleffekt sehr stark, wenn Musik gespielt wird, aber das kann dem Ensemble nicht unlieb sein, darauf komme ich noch.

Im ersten Konzertteil machte der Hall es leicht, jenen Klangteppich hervorzubringen. Er wurde eingeleitet mit einer langen Passage aus Christoph Herndlers Stück abschreiben, vielleicht war’s auch die ganze Komposition; im weiteren Verlauf wurde ein Ausschnitt wiederholt. Dieses Stück stieg von Anbeginn in die erste der Fragen ein: Wann wird Geräusch Musik? Rechts und links von mir spielten zwei Violinistinnen, die eine brachte lange Zeit nur Kratzgeräusche hervor, wie sie beim Schreiben mit der Feder zu hören sein mögen. Das war Geräusch. Allmählich wurden aber musikalische Töne, knappe Tonlinienfragmente daraus. Und von überallher ergänzte der Raum die leise Brandung des Gesamtensembles, denn in diesem Stück spielten alle mit. So leise wiederum die Kratzgeräusche und ihre Verwandlung waren, sie waren mir benachbart und also etwas lauter.

Wie eindrucksvoll, die Frage so zu beantworten! Das ist John Cage, aber produktiv weitergedacht. Cage wollte ja in der Musik „das Geräusch emanzipieren“, so wie vor ihm Arnold Schönberg „die Dissonanz emanzipiert“ hatte. Doch kann man sich bei Cage noch fragen, was das denn soll. Er „emanzipiert“ den Verkehrslärm auf der Straße oder das Gluckern von Wasser im Gewächshaus. Ganz anders ist es, wenn Geräusch unter der Frage steht, wie es gleichsam musikalisch wachgeküsst werden kann. Da denkt man an Michelangelos Sklaven, die vom Bildhauer aus dem rohen Steinblock geschlagen werden. Und sieht die Parallele zu einem anderen Unternehmen, das in diesem ersten Teil auch präsent ist: Wie aus Geräusch Musik werden kann, so aus dem nichtvorhandenen Ton der hörbare. Für Letzteres steht etwa Scelsi.

Oder der Ton kann ins Schweigen auch wieder zurückgeführt werden, wie es in Thomas Manns Roman Doktor Faustus geschieht. Dort gestaltet der Komponist Adrian Leverkühn, so jedenfalls empfindet es sein Freund Serenus Zeitblom, „aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung“:

„Hört nur den Schluss, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cellos, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.“

Mit welchem Schlussbild dieser Erzähler, vielleicht auch der Dichter selbst für die Hoffnung Partei ergreift, denn das „Licht in der Nacht“ ist eine zentrale biblische Metapher (Jesaja 9, Vs. 1; Matthäus 5, Vss. 14-16).

Schönberg, erinnerte ich eben, wollte „die Dissonanz emanzipieren“. Das war ein sinnvolles Unterfangen; es ist in der Tat nicht einzusehen, weshalb bestimmte Klänge, diejenigen, die die einfachsten Proportionen verkörpern, als „konsonant“ vor anderen komplexeren ausgezeichnet sein sollen. Man gewöhnt sich an sogenannte „Dissonanzen“ und öffnet sich damit einem differenzierteren Klangraum.

Aber Musik kann noch weiter gehen und es mit der Dissonanz so weit treiben, dass sie dem Hören als solche gar nicht mehr erscheint, vielmehr schillernde Musikfarbfelder bietet, wo das Licht mal die eine, mal die andere Zone stärker akzentuiert. Ligeti war wohl der Erste, der gleichsam systematisch in dieser Weise komponiert hat, nachdem aber schon Schönberg selber mit „Farben“, dem mittleren Satz der Fünf Orchesterstücke op. 16, die Richtung angegeben hatte. Will man solche Musik, tut ein Raum mit starkem Halleffekt ein Übriges.

Das trat im zweiten Teil der Langen Nacht hervor, in der das Ensemble geschlossene Stücke spielte, etwa Aroura für 12 Streicher von Xenakis oder ein Streichquartett von Ole-Henrik Moe, ein anderes von Lachenmann. Zipangu for 13 strings von Claude Vivier klang überwiegend tonal und hatte doch des Halls wegen diesen indifferenten Klangeffekt, so dass ich dachte, schade, dass sie nicht auch das Brandenburgische Konzert Nr. 3 von Bach spielen.

Dies Indifferenzerlebnis bringt Tom Rojo Poller im Programmheft sehr interessant zur Sprache:

„Dass räumliche Metaphorik so gut wie jedem Zur-Sprache-Bringen von Musik unverkennbar eingeschrieben ist (und das schon in Grundbegriffen wie Tonhöhe, Intervall etc.), ist […] ein deutlicher Indikator für die essenzielle Raumbezogenheit westlicher Musik und Musikerfahrung. Gleichwohl – oder auch gerade deshalb – hat es in der neueren Musikgeschichte immer wieder Versuche gegeben, den visuell-räumlichen Aspekt von Musik zu transzendieren und die Dimension von Zeit und Klang ganz in den Mittelpunkt zu stellen. Auch der letzte Konzertteil folgt diesem Ansatz.“

Den letzten Konzertteil habe ich mir wie gesagt nicht mehr angehört, doch konnte man es eben schon im zweiten Teil erleben. Ein indifferenter Gesamtklang, der mehr „farblich“ changiert und sich entwickelt, ist tatsächlich insofern raumlos, als sich der Raum durch seine Dimensionen erschließt und man diese in den Abständen der Objekte und Objektteile wahrnimmt. So sind Tonhöhe und Intervalle Abstände, und jede Musik, die sie hörbar macht, scheint gleichsam das Klettern zu erzählen oder über es zu reflektieren. Steigen und Fallen sind oft als musikalische Sinneffekte eingesetzt worden, auch in eher „abstrakter“ Musik. Solche Räumlichkeit wurde also zurückgenommen. Aber was hörte man dann stattdessen?

Gewohnte musikalische Botschaften sind eine Mischung aus Rhetorik und quasimathematischer Entwicklung, wobei das Pendel je nach Absicht und Begabung des Komponisten mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung schwingt. In der Kunst der Fuge von Bach überwiegt der mathematische Charakter, hingegen wenn Wagner im Parsifal-Vorspiel ihr Thema adaptiert und verschiebt, der rhetorische. Mit der „indifferenten“ „Farben“musik kommt ein Drittes ins Spiel. Und ich denke, die zitierten Sätze von Poller treffen es noch nicht ganz. Denn die Alternative zum „visuell-räumlichen Aspekt von Musik“ ist nicht „die Dimension von Zeit und Klang“ – deshalb nicht, weil die Zeitwahrnehmung ja ihrerseits von der Raumvorstellung dominiert sein kann. Dass unsere Vorstellung der Zeit es meistens ist, lehrt der einfachste Blick auf den wandernden Sekundenzeiger.

Klang wiederum ist alle Musik, auch die räumlichste. Es ist wohl eher so, dass die indifferente „farblich“ changierende Musik, wie ich sie unvollkommen genug bezeichne, sowohl aus dem Raum als auch aus der Zeit herausfällt. Und umso paradoxer ist es, wenn ihr Klang, der selbst keine Metapher auf Räumliches mehr ist, in einem Raum wie dem „Kesselhaus“ seine realen Orte hat und verändert.

Die Quartette, Zwölf- oder Dreizehnstreichergruppe, als die das Ensemble im zweiten Teil der Langen Nacht auftrat, verstreuten sich nicht mehr über den Raum, sondern sammelten sich vor verschiedenen Wänden, wo sie sich optisch fast verloren – wie es in einer gotischen Kirche nicht anders wäre -, während sie musikalisch umso eindringlicher kommunizierten. Ich denke, das Dritte, nach dem wir suchen, muss jedenfalls eine Dimension des Kommunizierens sein. Kommunizieren heißt nicht nur, dass Botschaften ausgetauscht werden, wofür wir die Sprache brauchen; es fängt mit der Stimme an. Keine Stimme eines Menschen gibt es, die nicht anders wäre als die andere, und jede ist ein indifferenter „farblich“ changierender Gesamtklang von höchster Komplexität. Über diesen Klang kann man sich auch lustig machen.

In einem Konzert der MaerzMusik 2016, das ich anhörte, gab es ein Stück mit dem Titel „Tierfrieden“, das die durcheinandergrölende Kreatur musikalisch imitierte, von einem Komponisten (Moguillansky), der im Konzertheft begleitend vom „Klang unserer gescheiterten (humanen?) Natur“ sprach; er stellte menschliche Stimmen dar, als wären sie ein Blöken, Krähen, Röhren, Miauen. Der Komponist selbst machte sich nicht lustig, macht aber darauf aufmerksam, dass manche es schon tun. Es war eine nützliche Provokation. Es gibt tatsächlich schon welche, die den Menschen für gescheitert erklären und meinen, der Stab des Humanen müsse an die Maschine weitergereicht werden. Gescheitert, weil evolutionär zurückgeblieben. Solche Gedanken, man hört es, ohne dass es gesagt werden muss, liegen dem Solistenensemble Kaleidoskop sehr fern.

Die Stimme ist selbst eine Botschaft. Sie zeigt mir, wie unendlich anders mein Nächster ist, denn nie werde ich seine Stimme entschlüsseln können. Was hat er mir zu sagen? Oder sie? Oder die Musik, von der die Rede war? Wenig verstehe ich sie, wenn ich mich über ihr unendliches Anderssein hinwegsetze. Der Raum hört auf und die Zeit steht still, wenn ich der Stimme zuhöre.

aus: Kritische Theorie des Hörens von Martin Mettin

Unmöglichkeit IV

Revue

Gibt es ein musikalisches Äquivalent zur theatralischen Postdramatik?

Wäre das die Zerstückelung der Werke in auseinandergerissene und beliebig neu zusammengebaute Versatzstücke? Oder die Beschwörung des Untergangs der Musik und blindes Vertrauen in ihre Widergeburt als reiner Sound? Leben wir also im Zeitalter der Postmusik?

Mit ihren diesmal in Silberbuchstaben glitzernden Kostümen wirken die Ensemble-Mitglieder ein wenig wie all die anderen Unterhaltungskünstler im Kulturbetrieb, die durch allerlei Wundermittelchen aus den Effektaservatenkammern um Aufmerksamkeit buhlen.

Revue als Spaßveranstaltung?

Der Schein trügt. Schnell lässt sich das Auditorium auf Turnmatten und unbequemen Papphockern am Boden des ehemaligen, gewaltigen Kesselhauses nieder. Das beinahe vollzählige Ensemble ist über die ganze Halle verteilt, durch kathedralenartige Fenster von sommerabendlichem Licht beschienen. abschreiben von Christoph Herndler erklingt im voluminösen Streichorchesterklang, jedes Instrument fährt die strenge Lineatur dieser graphischen Notation nach, schreibt die Bewegungen fort, lässt je seine Auslegung erklingen. Wanderungen in einer sich entfaltenden Klanglandschaft …

In solcher ernsten Gelassenheit, heiteren Konzentration, setzt sich diese lange Reise in eine musikalische Sommernacht fort. Über zwei Stunden hinweg bringen die siebzehn Solisten je eine (zumeist neue) Komposition für ihr Instrument allein zur Aufführung; geraten dabei bisweilen in musikalischen Widerstreit, gelegentlich auch sich ergänzende Mehrstimmigkeit. Kurz vor dem ersten Etappen-Ziel der Exkursion wird das Publikum schwach, will durch vorzeitigen Applaus anscheinend dem angespannten Hören entfliehen, doch erst jetzt erklingt das letzte Stück, gleichsam ein Abschiedsgruß: adieu m’amour. Aber nicht Dufays Rondo, sondern Mathias Spahlingers Bearbeitung singen sich da Violine und Cello gegenseitig zu, überbrücken im leisesten pianissimo spielerisch die Distanz zwischen ihnen, lassen noch den zartesten Ton hören, obwohl von draußen Stadtgeräusche eindringen und von den Kacheln widerhallen. Jeder dieser vereinzelten Töne – „mit sanfter eigenmächtigkeit“ (Spahlinger, in: Programmheft) aus Dufays adieu herausgerissen – ist mit einer Vielzahl an ungewohnten Spielanweisungen belegt, die nicht nur die technischen Fertigkeiten der Instrumentalisten herausfordern, sondern noch das empfänglichste Sensorium an seine Grenzen bringen, um zu hören, was in der Notenschrift eingeschlossen liegt. Derartiges aber weckt Misstrauen gegenüber den heute üblichen Grabreden auf die Musik; gälte es doch wahrzunehmen, wie aus dem Neuen das Alte hervorgerufen wird und Akutes schon im Gewesenen aufgehoben ist. Gegen postmoderne „Geschichtsvergeßlichkeit“ (Sonnemann), die alles zum Event erklärt, noch die Kunstmusik differenzlos dem harmlos Populären einverleiben will, hilft kein spektakuläres Gegenbrüllen im Betrieb. — Um hörbar zu werden, wieder hörend zu machen, muss sie, die Musik, leise werden, nicht laut.

Begeben wir uns also in die Unterwelt, zusammen mit der totgesagten: Musik. Nach dem Abschiedsgruß an eine „geliebte tradition … an die wir nicht heranreichen“ (Spahlinger, in: Programmheft) ist das Auditorium nun wieder auf sich gestellt, wandelt zwischen Kesselhaus und Nebenräumen hin und her.

Zwar wird die im elektronischen Remix beschallte Halle zwischenzeitlich doch einem Club allzu verwandt. Aber dieser und anderen Verlockungen lässt sich widerstehen, denn „auch Augenbinden und Scheuklappen gehören zur Ausrüstung“ (Lachenmann: Musik als existentielle Erfahrung, S. 194), will man sich zur Hellhörigkeit befreien, und „– wie Mahler sagte –: Wer zurückblickt, ist schon verloren“. Also zwischen den Türen für eine Weile ausharren, die akustische Gestalt der verschiedenen Sphären wahrnehmen ——, um dann entschieden in einen verlassenen Winkel der Nebenräume zu entschwinden, eine staubige Höhle aus industrieller Vorzeit, frisch gestrichene Wände dünsten noch chemischen Geruch aus. Die Fährte, vom Programmheft gelegt, erweist sich sogleich als folgerichtige, glückliche: Nachdem über vier Konzerte ein Trümmerfeld der Geräusche zunächst aufgeschüttet wurde, um dann Schritt für Schritt verschiedene Klangschichten auszugraben, liegt an diesem unscheinbaren Ort nun ganz nackt das zitternde Kraftfeld der ganzen Reihe frei: Gran Torso – werkgetreu:

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(Gran Torso, T. 1–7)

 

Verstummt scheinen diese Instrumente; tonlos liegt mir in den Ohren, was als Unklang verschrien; seufzt – fast lautlos – wie ein Hauch.

Ein stockender, zuweilen unterdrückter, Atem.

Das Kratzen der Saiten aber: mehr empfindlich machend als seinerseits empfindsam, wohl bestimmt,

von besonderer Feinheit; zugleich dem Schweigen bedrohlich nah …

… und doch die Klage – scharf gepresst – mit allem verbliebenen élan vorgetragen.

Die Notenschrift, im Gehörten nur zu erahnen, im Blick über die Schulter der ersten Violine mitzulesen: unübertragbar an ihr Instrument gebunden – gleichwohl zu übersetzen: ein Anspruch, der zum Scheitern verurteilt — wird.

Fingerkuppen tasten und streichen (schweigend) fühlen und finden Resonanz, den Hals entlang, (gelegentlich hörbar werdend), hinunter.