Solistenensemble Kaleidoskop
Wolfgang Riehm – Trio für 3 Streicher, Helmut Lachenmann – Gran Torso, Ludwig van Beethoven – Streichtrio I
Artistic Director: Tilman Kanitz

Photo: Sebastian Mayer

Im Atelier STUDIOTEN des Künstlers Dirk Bell wird der Moment, in dem Geräusch Musik wird, anhand von Fragmenten aus Gran Torso von Helmut Lachenmann zu einem langen Sehnsuchtsmoment gedehnt. Einem Moment, der das ganze Werk bereits in seinen zersplitterten Partikeln trägt – J’espère. Das Atelier, der intime Schutz- und Denkort des bildenden Künstlers, der Raum, in dem alles möglich ist, wird zur Bühne. In einem den Abend über dauernden Zerfall eines massiven Geräuschblocks wird nach und nach Musik von Beethoven, Rihm und Dufay freigelegt.

Anlässlich seines 10. Geburtstages beginnt am 09. März die vierteilige Konzertreihe des Solistenensemble Kaleidoskop Unmöglichkeit I–IV. Mit dem Anspruch, Musik immer wieder neu und unvoreingenommen zu spielen, werden darin musikalische Endpunkte und mögliche Neuanfänge erprobt. Kaleidoskop stellt die Frage nach der Existenz einer absoluten, unzerstörbaren Idee eines musikalischen Werkes: Wann wird Geräusch Musik? Wie lassen sich musikalische Standpunkte vermitteln? Welche Unmöglichkeiten des gemeinsamen Musikmachens existieren? Bis zum 11. Juni eröffnen sich dem Ensemble und seinem Publikum an vier verschiedenen Berliner Orten der bildenden Kunst in vier verschiedenen Konzerten neue Hörräume, die Hoffnung auf eine neue ‚Hellhörigkeit‘ versprechen. Jedes der vier Konzerte – J’espère, Unbox, Alice und Revue – hat seine eigene Bühne, seinen eigenen Klang- und visuellen Assoziationsraum. Die Konzerte sind sowohl als Einzelvorstellungen als auch als vierteiliges Gesamtwerk konzipiert. Die Spielorte nehmen Bezug zueinander und bauen aufeinander auf.

Musik: Solistenensemble Kaleidoskop
Künstlerische Leitung: Tilman Kanitz
Licht / Raum: Dirk Bell
Künstlerische Mitarbeit: Boram Lie
Klanginstallationen: Ole Brolin, Harpo ‘t Hart, Tilman Kanitz
Kostüm: Cristina Nyffeler

Ein Projekt von Solistenensemble Kaleidoskop. In Zusammenarbeit mit STUDIOTEN, Studio Picknick, Sammlung Hoffmann, KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst. In Kooperation mit RADIALSYSTEM V. Gefördert aus Mitteln der LOTTO-Stiftung Berlin, der Schering Stiftung und der Ernst von Siemens Musikstiftung.

aus: Kritische Theorie des Hörens, Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns, Dissertation von Martin Mettin

Zur Konzertreihe Unmöglichkeit I–IV

J’espère

Das Konzert beginnt bereits von Weitem: Vorwitzige, bald dröhnende Klangsplitter, welche um die sich nähernden Ohren fliegen, auf dem Weg zum Atelier, Veranstaltungsort des Abends. Nur vereinzelt und verspätet erhält das Publikum Einlass. So lauscht man denn eine ganze Weile den nach draußen übertragenen Klängen; teils aus verdeckten Lautsprechern, teils aus gut sichtbaren, verstärkt durch Fassadenplatten und eine große Stahltür, an welche die kleinen Tonmembranen mit dünnen Kabeln gekoppelt sind. Was da klingt, als würden erbsengroße Gegenstände von hinten gegen die Türe geschossen, wird sich später erst, doch man ahnt es bereits, als wiedergegebene Aufnahme von gezupften Streichersaiten herausstellen, welche nun die Türe in Schwingungen versetzt. Der andere Teil der Geräuschkulisse ist ganz dumpf, periodisch wabernd; als stünde man neben der Landebahn eines Flughafens, der (= Tegel) tatsächlich von hier nicht weit entfernt liegt. Eintritt ins Gebäude dann, hinaus aus der Kälte: In raumerfüllendem Lärm präsentiert sich das Atelier, beinahe ohrenbetäubend. Man nimmt Platz auf grob geweißten Kisten oder harten Holzstühlen, auch die Wände und das übrige, spärliche Interieur sind in hellem Weiß gestrichen. Alles ist von tonlosem Neonlicht illuminiert ——— und man wartet eine weitere halbe Stunde. Die hölzernen Sitzgelegenheiten werden zwischenzeitlich immer wieder zu Vibrationsverstärkern, übertragen das Dröhnen von tiefen Frequenzen auf die Eingeweide, der elektronische Basso Continuo in Zeitlupe erreicht das Zwerchfell, sodass man nicht nur vom Sound eingeschlossen, sondern mehr noch erfasst wird und widerwillig selbst in schleichendes Schwanken gerät. Obgleich elektronischen Ursprungs, ist dieser Klang mit dem in Club-Kellern keineswegs vergleichbar; lastet ungleich schwerer auf dem und im Körper; Tanzen ist ausgeschlossen. Nach sehr ausgedehnter Wartezeit ist die Zuhörerschaft irgendwann gänzlich versammelt, und es lassen sich — doch nur ganz allmählich — Modifikationen im Schall wahrnehmen. Einsprengsel von hohen Klängen, die wie Tischtennisbälle von Wand zu Wand jagen, – – – dann verfliegen … ; und auch der dumpfe Bass gerät in zunehmende Dynamik. Dies alles geschieht wie unter dem Blick von zwei überdimensionierten, riesenhaften Lautsprechern, die von der Decke herabhängen, drohend über dem ausgeleuchteten Atelier thronen.

Etwas lassen Verzerrungen und Hall nach, machen nun doch, annähernd, einzelne Töne, definierte Frequenzen, hörbar.

Dann Auftritt der Musiker. Weiß gekleidet, kreidebleich geschminkte Gesichter. Nur die Augenlider und -höhlen ganz schwarz. Ihr Aussehen: halb Tier (Vögel oder gar Pandabären?) halb Mensch. Als seien sie geradewegs den Texten Franz Kafkas entstiegen, wie jene Boten, Diener oder Gehilfen: bedacht auf Vornehmheit, doch von den hohen Schuhen in eleganter Form platzt schon die weiße Farbe ab. Ihren Dienst erweisen diese Wesen heute den Streichinstrumenten, deren dunkle und lasierte Holzkörper im hellen Flutlicht glänzen. Noch sitzen sie allerdings, quälend lange, reglos da; die tosenden Geräusche verwandeln sich weiter, man versinkt in ihnen, aber nicht meditativ, eher wie gelähmt, apathisch.

Die ersten Spielversuche der Instrumentalisten sind unter solchem Lärm nicht zu hören, nur zu sehen: wie sie sich still und mit durch den Lidschatten unnatürlich betonten Bli- cken zum Ansetzen verabreden. Es folgen Pausen —— und weitere Gesten des Zusam- menspielens, um eine Musik zu koordinieren, die noch niemand vernimmt.

Äußerst langsam wird es leiser, zieht sich die Elektronik zurück. Sodann werden die Interpretationen hörbarer. Kurze Fragmente neuer Musik (Rihm? Lachenmann?) blitzen auf. Womöglich auch schon ein Beethoven zwischendrin? Der angekündigte Guillaume Dufay (adieu m’amour) hält sich sehr versteckt. Aber tatsächlich, nun Beethoven, aufatmend unter dem jetzt brüchig werdenden Klangmassiv — doch sogleich wieder verschwunden.

Erst in diesem Augenblick fällt auf, was in den fühllosen Zustand des Starrens versetzt, zusammensinken lässt: Die Ohren werden hier verstopft – aber nicht mit Wachs oder Schaumstoff, sondern von einem übertönenden Schalldruck, der in das Labyrinth der Gehörgänge regelrecht hineinkriecht, nachhaltig alle Öffnungen verklebt. Verstärkt noch durch das gleißende Licht, allgemeine Benebelung der Sinne. Zweimal bricht der Lautsprecher einseitig weg, nur aber, um ein pfeifendes Ohr seine Arbeit übernehmen zu lassen. Bleibt der dröhnende Nachhall aus physiologischen Gründen im Innenohr hängen? Oder ist es der Widerklang von rasender Langsamkeit, rhythmisch erstarrter Zeit, Diktat also der Uhren, die vor den Musikern unauffällig doch umso folgenreicher liegen, ihren Einsatz vorgeben und die Spieldauer streng begrenzen?

Die Töne von Streichtrio (geradeaus) und Streichquartett (links sitzend) gelangen indes- sen nicht so recht bis in die Tiefe des Gehörs, wo sie doch hinsollen und -wollen. Doch lassen sich, immerhin, als membra disiecta aus vergangener Zeit, Bruchstücke in sich ge- fügter Kompositionen auffangen. Ob ‚alt‘, ‚klassisch‘ oder ‚neu‘ —— für einen Augen- blick schwindet der Abstand zwischen ihnen, der umgebende Lärm hebt das Ähnliche hervor und überdeckt das Trennende. Sie sind Idiolekte einer gemeinsamen Sprache (Musik), deren epochenmäßige Einteilung fehlgeht; überhörte man so doch etwa, dass in der harmonischen Form die ganze Atonalität nicht nur bereits eingeschlossen liegt, vielmehr zuweilen ausbricht – und dass der vermeintliche Missklang manch neuer und zeitgenössischer Kompositionen doch auch wohlgeformt und stimmig sein kann (gelegentlich gerade in seiner Unstimmigkeit); nicht hässlich, sondern schön. Ekel und Gefallen: allzu oft konventionelles Ressentiment, nicht empfängliche Urteilskraft. Ein kurzer Gedanke, ein kaum hörbarer musikalischer Impuls, der sogleich vom dröhnenden Lärm hinfort gerissen wird.

Unmöglich ist es, den „massiven Geräuschblock“ (Programmheft) schon als Musik zu hören. Was aber hieße es, sein stetiges Zerfallen musikalisch zu hören? Zunächst: Verbot der einfachen Analogie- und Kurzschlüsse: weder ist hier der elektronisch erzeugte Lärm bloßes Abbild eines alltäglichen; noch aber ist musikalische Dissonanz lediglich Produkt einer antagonistischen, ‚dissonierenden‘ Gesellschaft. Derart befreit von der Aufgabe, als Symbol für etwas anderes einzustehen, lassen sich noch die profansten „Klangpartikel“ (Programmheft) übersetzen aus der menschenfremden Sprache der Dinge in eine menschlichere, in Musik. Aufhebung eines Geräusches.

Konsequenter Schlusspunkt solcher musikalischen Reflexion: eine Komposition, welche das Geräusch zum tragfähigsten Material bestimmt, damit gleichsam an die Grenzen der Leere gerät; lang erwartet und auch schon im Laufe des Abends angeklungen, jenes große Hörmodell 1, Bruchstück, Gran Torso (Helmut Lachenmann). Doch auch dies nur als Zitat: zuerst erklingt das Ende mit den gewaltigen, zugreifenden, knallenden Pizzicati. Sanfte Ohrfeigen, womöglich daran erinnernd, dass hier schwere Arbeit am musikalischen Material geleistet wird?

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(Helmut Lachenmann: Gran Torso, T. 273–280)

Schließlich Sprung weiter nach vorne, zum inversen Höhepunkt des Stückes, einem lang vorbereiteten, ausgehaltenen Verklingen: